Davon geht die Welt nicht unter – Die 20er-Jahre sind jetzt!

Begeisternde Uraufführung – Überraschend anders!

Ausverkauft! Dieses Wort sehen Künstler gern. Erst recht, wenn es sich bei der ausverkauften Veranstaltung um eine Uraufführung handelt, von der beide – sowohl die Künstler als auch das Publikum – vorher nicht wissen, was sie erwartet, bzw. wie es ankommt, was sich zunächst nur auf dem Papier entfaltet und dann in der Probenphase unter Zweifeln und Ringen auf die Bühne gebracht wird. Was für ein Glück, wenn beider Erwartungen so übertroffen werden wie im Fall der Uraufführung des Theaterstücks „Davon geht die Welt nicht unter“ – Die 20er-Jahre sind jetzt!

Szenenapplaus nach schmissigen Liedern, lautes Lachen über viele gelungene Pointen und herrlich komische Szenen standen Gänsehautmomenten gegenüber, in denen die Zuschauer den Atem anhielten, weil sich die Figuren einen Blick in den Abgrund erlaubten, der sich hinter der schönen Fassade der „goldenen 20er-Jahre“ auftut. Die Parallelen zur heutigen Situation sind unübersehbar. Gerade hier zeigt sich der Mut der Produktion, die es schafft, die Gefahren des aufkommenden Autoritarismus und Nationalismus aufzuzeigen und gleichzeitig bestens zu unterhalten, ohne banal zu werden.

„Davon geht die Welt nicht unter“ Premiere im Theater Puttbus | Foto: SAM Entertainment

Doch eins nach dem anderen: Worum geht es in der neuesten SAM Entertainment Produktion „Davon geht die Welt nicht unter“?

Einerseits geht es um die beiden Künstlerinnen Liesbeth „Sissi“ Schmidt (gespielt von Marianne Blum) und Henriette „Henry“ Bauch (gespielt von Anna Maria Haas), die beide im Berlin der 2020er-Jahre von ihrer Kunst, also dem Komponieren und dem Singen und Stücke schreiben zu leben versuchen, und andererseits um den aufstrebenden Autoren Emil Henneberger (gespielt von Thomas Linke), der im Berlin der 1920er-Jahre ebenso versucht, als Untermieter seinen beengten Lebensumständen Kunst abzutrotzen. Allen dreien bietet sich die unerwartete Chance, ihre Ideen als Testversion auf einem Salon des jeweils wichtigsten Theaterdirektors zu präsentieren. Dort werden Prominente und Schlüsselpersonen ihrer Zeit erwartet. Diese Aufführung im Salon könnte also für alle drei den Durchbruch bedeuten. Aber die Zeit drängt und die Umstände sind schwierig. Zu den Umständen zählen auch ihre jeweils auf andere Weise unangenehmen Nachbarn, was u.a. zu herrlich komischen Dialogen zwischen Henneberger und seiner Vermieterin Dorothee Schlegel führt.

Marianne Blum als Sissi und Anna Maria Haas als Henry | Foto: SAM Entertainment

Dabei ist Emil Henneberger eine Figur, die sich aus den realen Vorlagen der Schriftsteller Kurt Tucholsky und Erich Kästner speist. Gedichte und Lieder von beiden bereichern das Stück, darunter z.B. „An das Publikum“ von Tucholsky, das wenig bekannte, aber reizvolle, von Edmund Nick vertonte Gedicht „Die möblierte Moral“ von Erich Kästner oder das weitaus bekanntere Kästner-Gedicht „Kurt Schmidt – statt einer Ballade“. Auch die enge Mutterbindung von Kästner wird thematisiert, wenn er ihr via Postkarte erst von seinen Erfolgen berichtet, dann zu Grammophon-Klängen selig seine Dreckwäsche zusammensucht, um sie ihr nach Dresden zu schicken. Im Gegenzug warnt sie ihren Sohn am Anfang des 2. Akts mit deutlichem sächsischem Akzent vor „schamlosen Frauenzimmern“ aus Berlin, die „sogar Hosen tragen“. „Nachher suchste den Frack im Schrank vergeblich.“

Thomas Linke als Emil Henneberger | Foto: SAM Entertainment

Parallel dazu stellen die beiden Künstlerinnen der Aufgabe, ein Stück über die 20er-Jahre zu schreiben, und testen dazu verschiedenste Musik der Zeit. So bekommt das anzügliche „Ich hab‘ das Fräul’n Helen‘ baden seh’n“ ebenso seinen Auftritt wie die Ohrwürmer „Ich wollte, ich wär ein Huhn“ und „Ausgerechnet Bananen“, das Galgenlied „Palmström steht an einem Teiche“ und das freche Kabarett-Couplet von Claire Waldoff „Wer schmeißt denn da mit Lehm?“. Als Sissi schließlich das durch Zarah Leander berühmt gewordene „Yes, Sir!“ singt, wird es Henry zu bunt. Sie ruft ihre überschäumende und von der unerwarteten Chance elektrisierte Bühnenpartnerin Sissi zur Raison: „1933 im Januar hatten die Konservativen unter Hindenburg und von Papen Hitler zum Reichskanzler gemacht, um ihn „inhaltlich zu stellen“, im Februar sind bereits die Kommunisten schuld am Reichstagsbrand und im März wird das erste KZ eröffnet. Dachau. Vier Jahre später, also im besagten Jahr 1937, aus dem Dein „Yes, Sir!“ stammt, sind die Nazis praktisch Alleinherrscher.“ Die Stille nach dieser unwiderlegbaren Auflistung der Geschwindigkeit, mit der die Demokratie und Menschenrechte abgeschafft wurden, wenn man erst mal Antidemokraten an die Macht lässt, war mit Händen zu greifen – und das nicht nur am Premierenabend von „Davon geht die Welt nicht unter“.

Kommentar einer Zuschauerin

„Ach ja, und die Carmina Burana“ wird uraufgeführt. Es war nicht alles schlecht…“ löst Henry die Spannung und donnert „O Fortuna“ in die Tasten des Steinway, bevor die beiden wieder wie eingefroren verharren und sich in der anderen Bühnenhälfte Emil Henneberger ärgert, dass etwas so Seichtes wie „Mein Papagei frisst keine harten Eier“ ein Hit wird, während er die Menschen mit seinen Texten aufzurichten versucht, „auf die volle Länge ihres Rückgrats“. Das ist auch nötig angesichts der bereits 1927 marodierenden und die Bevölkerung drangsalierenden SA, vor der Henneberger denn auch seinen Freund Hamm warnt, als der ihn zum Feiern abholen will.

„Davon geht die Welt nicht unter“ im Theater Putbus | Foto: SAM Entertainment.

Der „Freeze“, also das eingefrorene Verharren der Darsteller:innen und der deutliche Lichtwechsel zwischen den Bühnenhälften in der ersten Hälfte reicht als theatralisches Mittel, um die Gleichzeitigkeit der Handlung im heute von Henrys Wohnung und der Dachgeschosswohnung von Henneberger in den 1920er-Jahren eindrücklich zu verdeutlichen. Über allem tickt als verbindendes Element eine große Wanduhr, die immer schneller abläuft und damit die Situation für alle drei klarstellt.

Henry und Sissi in den 2020er | Foto: SAM Entertainment

Überhaupt spielen die Videoeinblendungen bei „Davon geht die Welt nicht unter“, die bis auf wenige Möbel das Bühnenbild ersetzen, eine wichtige Rolle bei dem Stück, das von den technischen Möglichkeiten des schönen Theater Putbus und der ideenreichen Inszenierung des Intendanten Peter Gestwa in jeder Hinsicht profitiert. Dies wird vor allem in der 2. Hälfte deutlich. Denn hier mischen sich die Jahrhunderte.

Peter Gestwa gibt Regieanweisungen | Foto: SAM Entertainment

Marianne Blum – nicht nur Darstellerin der Bühnenfigur Sissi Schmidt, sondern auch Autorin des Stücks – wagt hier eine magische Vermischung der Jahrhunderte, was ihr ohne Zeitmaschinen-Hilfsmittel oder Fantasy-Kitsch gelingt. Im wahrsten Sinne des Wortes oszillieren nach der Pause die 1920er und die 2020er-Jahre ineinander, indem die drei Künstler sich und den Prominenten ihrer Zeit real auf dem Salon begegnen.

In der zweiten Hälfte mischen sich die Zeitebenen | Foto: SAM Entertainment

Das Stück erhöht nach den ohnehin schon munter perlenden Dialogen des 1. Sets das Tempo im 2. Set und löst damit noch nachdrücklicher ein, was es im Untertitel verspricht: „rasantes Theater mit Musik“. So entdeckt Henry „die Riemann“ unter den Zuschauer:innen aber auch den Chef der neuen ufa und den Döpfner von der Springerpresse, während Henneberger zur Erheiterung des gesamten Auditoriums Marlene Dietrich, den legendären Theaterkritiker Alfred Kerr (hier Alexander Kerr) und Lion Feuchtwanger, den Schöpfer des Romans „Jud Süß“, persönlich im Publikum begrüßt.

Emil Henneberger begrüßt Marlene Ditrich | Foto: SAM Entertainment

Die Figuren werden also parallel in ihrer Zeit weitergeführt und begegnen sich gleichzeitig in einer urkomischen Kette von Missverständnissen. So fragt die praktisch veranlagte Pianistin, wo denn das Büfett aufgebaut wird, was Henneberger mit dem Brecht-Zitat „Erst kommt das Fressen, dann bekanntlich die Moral“ kommentiert, woraufhin Sissi erschrocken fragt, ob denn der Intendant vom Berliner Ensemble auch kommt. Als Henneberger dann auch noch den Reizen der resoluten Henry erliegt und die beiden sich über ein Jahrhundert Altersunterschied hinweg verlieben, haut es die Sängerin buchstäblich zwischen zwei Stühle.

Henry entdeckt Prominenz unter den Salongästen | Foto: SAM Entertainment

Billy Wilder hätte seine Freude an dieser Vermischung der Ebenen und Zeiten, dem Mut zum Slapstick, der Pointendichte, dem trockenen Witz der Dialoge, dem Tempo der Inszenierung und den lebensklugen, aber auch gebeutelten Figuren, die ihre allzu menschlichen Unvollkommenheiten mit dem heiligen Ernst zelebrieren, der erst wahrhaft komisch ist. Das Publikum jedenfalls quittierte das Geschehen und die bedingungslose Hingabe der Darsteller:innen an ihre Rollen mit immer wieder aufflammender und schließlich im Schlussapplaus mündender lang anhaltender Begeisterung.

Die Figuren erlauben sich in der zweiten Hälfte den Blick in den Abgrund | Foto: Samentertainment

So überzeugte der arrivierte Schauspieler Thomas Linke in „Davon geht die Welt nicht unter“ als 20er Jahre Literat Henneberger auf ganzer Linie und stellte mit dieser Rolle klar, dass er auch im komischen Fach gut aufgehoben ist. Sein haltungsstark vorgetragenes Gedicht „Die andere Möglichkeit“, in der Erich Kästner den Gedanken „Wenn wir den Krieg gewonnen hätten“ zu Ende denkt, gehört zu den wichtigsten Stellen und absoluten Gänsehautmomenten des Stückes. Marianne Blum zeigte als Sissi Schmidt nicht nur, was für eine exzellente Sängerin mit atemberaubender Bandbreite an Ausdrucksmöglichkeiten sie ist, sondern auch dass sie keine Scheu hat, sich bis zur letzten Konsequenz über sich selbst lustig zu machen. Und Anna Maria Haas bewältigte das Kunststück, pianistische Höchstleistung wie z.B. bei der „Rhapsody in Blue“ von Gershwin zu präsentieren und schauspielerisch als pragmatisch-resolute, aber auch warmherzige und witzige Bühnenfigur Henriette Bauch zu überzeugen. „Bauch wie Herz – nicht zu verwechseln.“

Keep on dancing – Die 20er Jahre sind Jetzt! | SAM Entertainment

„Überraschend anders“ urteilte denn auch anerkennend der Chefdramaturg des Theater Vorpommern nach der Uraufführung. Ein Zuschauer kommentierte: „Meine Frau hat mich mitgeschleift. Ich wollte erst nicht. Schon wieder so eine 20er Jahre Revue, dachte ich. Aber das hier ist anders. Das hat mich total begeistert.“ „Mutig“ fand ein weiterer Zuschauer die Produktion und immer wieder fiel: „toll“, „ich habe mich kaputtgelacht“, „was für schöne Lieder“, aber auch das Wort „erschreckend“. Eine Gruppe junger Theaterbesucher unterhielt sich bereits in der Pause über die Aktualität des Stückes „Das habe ich nicht gewusst. Das hat mich echt zum Nachdenken gebracht“ und beschloss „Man muss öfter ins Theater gehen.“

Kurz: Man kann dieses Stück nur allen empfehlen, die relevantes Theater sehen wollen und sich dennoch köstlich amüsieren wollen.

Nächste Termine: https://www.theater-vorpommern.de/de/programm/davon-geht-die-welt-nicht-unter

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